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Argonaut. Ikarus. Gordischer Knoten.
Ein Portrait des Malers Hans-Hendrik Grimmling


Von Doris Liebermann


„Jeder Künstler ist ein Argonaut, der mit seiner Kunst in Imaginationen auszieht, um etwas heimzuholen“, sagt der Maler. Ein großer sonnendurchfluteter Raum. Von zwei Seiten fällt das Licht durch große Fenster. Überall große und kleine „Grimmlinge“. Den Blick fesseln drei Bilder an der Wand. Gelb, Blau, Weiß und Schwarz. Wie Skulpturen treten die Motive dem Betrachter entgegen: Segel, Flügel, Wellen, Schiffsrümpfe, Arme, die ein Segel umklammern. Sperrige Formen. Vielleicht sind es im Meer Verlorene, in ihrer Sehnsucht Verlorene, im Aufbruch Gescheiterte. Es ist schwer zu sagen, ob Untergang oder Rettung gemeint ist, im Spiel der Kräfte ist beides möglich. Oder ist das eine Segel eine angedeutete Vagina? Das ewig Weibliche, das den Argonauten zum Aufbruch in unsichere Gefilde lockt? Auch diese Interpretation läßt das Bild zu. Es ist ein Triptychon aus dem Argonauten-Zyklus, an dem Grimmling arbeitet.
Der Künstler ist auch ein Ikarus und ein Gordischer Knoten“, ergänzt er, womit er die drei wichtigsten Stationen seiner eigenen künstlerischen Existenz umschrieben hat. Das Sächsische hat ihn auch nach bald zwanzig Jahren Berlin nicht verlassen. Sein Atelier befindet sich in einem großen Fabrikhof im Wedding, einem von vielen Türken bewohnten Stadtviertel: zweiter Hof, dritter Aufgang, zweiter Stock. Gegenüber, auf der gleichen Etage, ist der Eingang zu einer Moschee.
Grimmlings Bildsprache ist von der Landschaft seiner Kindheit geprägt. 1947 in Zwenkau bei Leipzig geboren, wächst er im sächsischen Braunkohlerevier auf. Endlose Kohlengruben verschlingen Dörfer, Felder und Wälder. Die Gruben sind so groß, daß sie am Horizont mit dem Himmel verschmelzen. Die Strukturen der freigelegten Erdschichten und ihre ornamentale Rhythmik prägen Grimmlings visuelles Gedächtnis. Verwirrte, heimatlos  gewordene Feldmäuse lassen sich in dieser zerstörten Landschaft mit der bloßen Hand greifen. In der Weißen Elster, dem Fluß der Kindheit, in dem er schwimmen lernt, treibt schwarzer Schaum. Aus frühen Kindheitserinnerungen her stammt das intensive, tiefe Schwarz auf Zyklen wie „nachtmahl“, „feuerspucker“, „schwarze egge“. Es ist eine späte Reflexion auf das allmähliche Verschwinden von Grün, das Verschwinden seiner Kindheitswälder und -wiesen. Daß das Grün auch aus seinen Bildern verschwunden ist, wird ihm erst heute richtig bewusst. Auf seinen frühen Landschaftsbildern war es immer schon mit einem grauen Ton gemischt. Es war das Grün der Bäume und Wälder, die das Sterben in sich trugen.
Weil der Vater die Familie verlassen hat, wächst Grimmling mit seinen beiden Schwestern in einem Kinderheim auf. Am Wochenende sind die Geschwister bei der Mutter. Er boxt, spielt Fußball, sieht gerne russische Partisanenfilme. Er versucht sich mit kleinen Gedichten, kopiert Motive von Franz Marc, malt Aquarelle. Er ist vierzehn Jahre alt, als er das erste eigene Atelier mietet. Ein Zufall. Seine Mutter, Gemeindeschwester im Ort, hört von einem Sofa, das zu verschenken ist. In der kleinen Wohnung ist kein Platz dafür. Ein Freund weiß von einer alten, leerstehenden Drogerie, in der man es unterstellen könnte. Sie liegt an der Pegauer Straße, von der es heißt, daß sie die längste und älteste Handelsstraße Europas ist, die Leipzig mit Rom verbindet. „Dieses Atelier war eine Werkstatt, das Fremde zu suchen und zu finden, und so ist es noch heute“, sagt der Maler. „Es war ein erstes Gefühl von Selbständigkeit, vielleicht sogar von Freiheit.“
Leipzig ist seine erste Großstadt: Es wird der Ort erster Emanzipation und ersten Scheiterns.
Von Zwenkau aus fährt man mit dem O-Bus die fünfzehn Kilometer dorthin. In der Messestadt gibt es Straßenbahnen, Cafés, verwirrende Schaufenster, große, verlockende Geschäfte, Frauen in Stöckelschuhen. In Leipzig besucht er einen Zeichenkurs im „Klubhaus der Freundschaft“. Er malt Stillleben, portraitiert alte Frauen, zeichnet Akte. In Leipzig geht er zum ersten Mal in ein Theater, er ist von Künstlern, Malern, Schauspielern tief beeindruckt. In dieser Stadt deutet sich das „Verhängnis Kunst“ an - und von diesem nicht mehr lassen zu können.

„unter der heftigen anspannung zwischen hoffnung und hoffnungs-
losigkeit suche ich seit früher kindheit mittel, davon zu reden. 
am möglichsten schienen mir malerei und zeichnung.
meine bilder registrieren meine mitteilungen – und sie reflektieren
verständnislosigkeit über die stufen nötiger veränderungen, bis …“
,
schreibt er Jahre später, als er schon in West-Berlin lebt, in einem Text.
„die äußeren veränderungen kennzeichnen meine wanderung vom
kleineren zum nächstgrößeren ort – vom dorf der kindheit in die
kleinstadt, von der kleinstadt in die großstadt, von der großstadt in
die metropole.
jede neue station bedeutete die verschleppung von beziehungen als
bloße hinterlassenschaft.
die inneren veränderungen parallelisieren die äußeren, in chronolo-
gischer folge der zwangsläufigkeit von kindheitsmustern.“


Seine Bewerbung an der Hochschule für Graphik und Buchkunst in Leipzig bleibt nach Abitur und Armeedienst zunächst erfolglos. Er schlägt sich als Transportarbeiter, Bühnenarbeiter, Bühnenbildassistent durch. 1969 wird er an der Hochschule für Bildende Künste Dresden aufgenommen, ein Jahr später wechselt er in die Messestadt.
Er ist 23 Jahre alt, er hat schon Familie. Auf der Messe können Kunststudenten gut Geld verdienen, auch das spricht für den Umzug. Vor allem aber gilt die „Leipziger Schule“ als Aushängeschild für eine liberalisierte, sozialistische DDR-Kunst. An der Leipziger Kunsthochschule lehren Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig, die Ateliers und Werkstätten sind großzügig ausgestattet. An der Leipziger Hochschule werden Handschriften gewagt, die das Diktat des sozialistischen Realismus zu unterlaufen scheinen.
Seit der Bitterfelder Konferenz Ende 1959 sind die Künstler auf den Klassenkampf eingeschworen. Sie sollen in die Fabriken gehen, die Werktätigen bei der Arbeit darstellen und sie so beim Aufbau des Sozialismus unterstützen. Im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens steht der Mensch – der „sozialistische Mensch“. Obwohl die dogmatische Phase zu dieser Zeit bereits abgeklungen ist, werden auch an der Leipziger Kunsthochschule  Baustellen, Arbeiterhelden und fröhliche Armeebilder produziert. Grimmling aber malt Selbstportraits, Akte, arbeitet an graphischen Zyklen und bedrückenden Vogel-Allegorien, die manchmal wie mittelalterliche Folterszenen wirken. Die Motive haben wenig mit realsozialistischer Schönfärbung der DDR zu tun. „Der Vogel war die erste Figuration, die die menschliche Figur ersetzt hat. Damals  waren es noch sehr realistische Vögel, die ich zusammenhockend auf einer Leine gemalt habe“, sagt der Maler. „Aber der Vogel war schon eine politische Metapher für mich.“ Seine Vorbilder sind die Expressionisten, Karl Hofer und Max Beckmann. Über die formalen Auseinandersetzungen mit den Vaterfiguren, den Lehrern an der Hochschule, formiert sich sein Widerspruch. Anders zu malen heißt in der Folge: anders zu denken.

In der altehrwürdigen, aber grauen und verfallenden Universitätsstadt Leipzig etabliert sich auch eine alternative Szene, die von Absolventen der Kunsthochschule mitgeprägt ist, die gegen Bevormundung und sozialistische Enge rebellieren. Grimmling gehört dazu.
Es werden rauschende Faschingsfeste gefeiert, an den Stipendientagen Stockwettkämpfe ausgetragen, im „Schwalbennest“ reichlich Bier für 40 Pfennig getrunken. Aber es reicht den Künstlern nicht, nur Spaß zu haben und lustig zu sein, sie führen hitzige Debatten über die Freiheit der Kunst und suchen Wege, diese Polemik in die Öffentlichkeit zu tragen.
Es ist fast ein Sport, auf der Buchmesse die Bücher westlicher Verlage zu stehlen. Sie werden unter der Hand weitergereicht. Auch teure Kunstbände, etwa eines Francis Bacon, sind dabei. Grimmling verschlingt die Gespräche von David Sylvester mit Francis Bacon, hat Sehnsucht nach den Realisten der Londoner Schule, ist süchtig nach anderen Formsprachen, gierig nach Informationen von draußen. Er illustriert den russischen symbolistischen Dichter Alexander Blok und fertigt Holzschnitte auf die 68er Studentenrevolte in Frankreich. Er liest Peter Weiss, Solshenizyn, Babel, Bulgakow, Faulkner, Peter Hille. Im kleinen Leipziger Studiokino „Casino“ sieht er die subversiv wirkenden Filme von Zanussi, Mészáros, Menzel, Wajda, Andrej Tarkowskij. Die Ästhetik und Metaphorik dieser Filme – etwa von Tarkowskijs „Stalker“ - korrespondiert mit den Ikonographien seiner Bilder.
Im vierten Studienjahr entsteht das religiös anmutende Triptychon „im namen der geheiligten mittel“. In schwarzen Grubenlöchern knien Menschen mit brennenden Kerzen. Sie haben schwarze Flügel an ihren Körpern. Auf den Seitenteilen sind die gleichen Figuren dargestellt, ohne Flügel. Links verteilen sie Messer untereinander, rechts stechen sie auf einen an einen Bretterzaun genagelten roten Menschenleib ein. Als Grimmling erklären soll, was er mit diesem Triptychon meint, antwortet er: „gesellschaftliche Zustände“.
Weil seinen Bildern eine „völlig fremde Phantasie“ anhafte und wegen „fehlenden Bezugs zur Arbeiterklasse“ wird ihm im Diplomjahr die Exmatrikulation angedroht. Später heißt der Vorwurf: „Einfluss imperialistischer Dekadenz“. Grimmling bekommt die Auflage, im Obertagebereich der Grube Espenhain zwei Brigadiere zu portraitieren, wenn er sein Studium abschließen will. Es ist Winter, als er jeden Morgen in die Grube fährt. Die mit weißem Schnee bedeckte schwarze Grubenlandschaft wirkt weit und surreal, er empfindet trotz der Tristesse Poesie, Ferne und Fernweh. Mit den Arbeitern kommt er gut zurecht. Einen malt er mit rotem Kopf und aufgeplatzten roten Händen, den anderen sitzend, vor Müdigkeit einschlafend. Keine Helden der sozialistischen Arbeit. Als Prüfungsarbeiten reicht er das Tafelbild „Mord an der Muse“ ein, das dem ermordeten chilenischen Sänger Victor Jara gewidmet ist, und die Graphikmappe „Wolkenbrücke“ mit Lithographien zu eigenen Versen. Die Arbeiterportraits bestimmten das Prüfungsergebnis: „Sehr gut“. Zusätzlich bekommt er eine Geldprämie.
Ab 1974 ist er, drei Jahre lang,  Meisterschüler bei Gerhard Kettner, dem Rektor der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Er fühlt sich zwischen Lob und Strafe, Zuckerbrot und Peitsche, hin- und hergerissen. Er ist involviert ins Dulden, Erdulden. Die schwarzen Flügler sind auch eine Metapher für das Ausbrechen-, Flüchtenwollen aus einer Blindheit heraus. Die gestutzten Flügel aber machen ein Entkommen unmöglich. Sein Triptychon „die umerziehung der vögel“ (1978), beschreibt die Gewalttätigkeit von Erziehungsmustern in traumatisierten Figuren, die durch die Anmaßung, fliegen zu wollen, zu Stürzenden werden. In der DDR-Presse wird das Bild diffamiert, das Provokante hat seine Wirkung. Grimmling lässt sich nicht beirren: Er malt Menschen mit schwarzen Flügeln, schwarze Vögel, die abstürzen, Körperteile, die ineinander verknotet sind. Es entstehen ikarische Zyklen und Assoziationen auf Olivier Messiaens „Les oiseaux“- Kompositionen. Er hat Ausstellungen mit - noch - figurativen Bildern, die im Laufe der Zeit rhythmisch inszenierten abstrakten Symbolen und Zeichen weichen. Die Figurationen sind die des Gestürzten, des Eingesperrten, des Gequälten, des Gestolperten, nie Figurationen des Idylls oder des Siegers. Es entstehen Mauerbilder voll eruptiver Energie und wütender Vitalität. In intensivem Rot, in „fanfarischem Rot“, wie der Maler es nennt, im Rot der Arbeiterklasse, stellt er Gemarterte dar, denen die Haut vom Leib gerissen scheint. Eines seiner wichtigsten Mauer-Triptychen trägt den Titel „der ruderer“ (1978). Das Mittelteil zeigt einen blutroten Mann, der rudernd die Mauer durchbricht und mit seiner Kraft den Bildrand zu sprengen scheint: Doch der Bildrahmen beengt die Figur wie die Lebensumstände den Menschen. Die beiden Seitenteile stellen weiße Betonstücke dar, Mauersegmente, auf denen rote, geschundene Menschenleiber liegen. „Damals, als die Mauer-Bilder entstanden, war es eine Attacke der eigenen Gegenwart. Aber es war auch gemeint, daß auf der Mauer rote, fleischgewordene Figuren liegen, die in ihrer Kreatürlichkeit nie behend sein könnten. Nicht nur, weil sie schon Opfer sind, als Mauerläufer zum Opfer werden: Sie sind schon vorher zum Mauerspringer verdammt. Meine Figuren sollten beschreiben, daß es eine Zwangsläufigkeit im Sein, in der mentalen Verstrickung gibt“, sagt Grimmling. „Mit meiner Beschreibung der Stürzenden mit schwarzen Flügeln war nicht immer nur die DDR gemeint. Ich glaube nur den Menschen zu begreifen, der stürzt. Ich habe noch nie den begriffen, der aufsteigt und fliegt.“
Die Beschreibung des Wegwollens und Stürzens der Flügelmenschen reicht dem Maler nicht mehr. Er formuliert die Metapher kürzer: Die Behinderung beginnt mit der ersten Begegnung zweier Menschen. Seine Flügelmenschen sind nun verstrickt in einem Knäuel. Es entstehen Kompositionen mit Leibern, Armen und Beinen, die ineinander verknotet sind und niemandem zu gehören scheinen. Die Menschenknäuel sind die Überleitung zum „Gordischen Knoten“, der neben dem „Vogel-Menschen“ eine zentrale Metapher seines Werkes wird.

„ich inszeniere im kopf mit formen – immer mit körperteilen …  immer
vom mensch … ich baue eine dramaturgie mit armen und beinen …
aber ich will immer eine handlung verhindern
ich habe den glauben, viel inszenierbaren stoff mit mir herumzuschleppen
ich kann nicht sagen, wie sehr meine augen nach draußen mitarbeiten
… gesehenes kann ich nicht bewusst umsetzen
das ist ein konflikt zwischen draußen und mir -“…,

heißt es später in einem Text.

Eines der bekanntesten Tafel-Bilder dieser Zeit trägt den Titel „schuld der mitte“, die Neue Nationalgalerie Berlin zeigte es 2004 in der großen „Kunst in der DDR“Ausstellung.
Zu DDR-Zeiten kaufte das Lindenau-Museum Altenburg diese Arbeit auf. Verdienst dieses Museums ist es, daß das Bild damals nicht im Keller verschwand, wie es anderen Arbeiten des Malers erging. „schuld der mitte“ ist voll verwirrender Energien: ein verletztes weißes Bein, Hände, Füße, Flügel, Köpfe. In der Mitte die ausgestreckte rote Hand eines deformierten Vogelmenschen, fragend, fordernd – keine andere Hand reagiert auf sie.
„Das Gipsbein, der Stürzende, die Faust, die Hand sind in ihrer aus dem Bild wollenden Kraft gleich. Im Stürzen wie im Kampf, in der Trauer, in der eigenen Gebrochenheit wie im ungelenken Optimismus. Alles hat gleiche Energie, aber keine Wurzel, keinen Kern, keine Mitte“, sagt der Künstler. „Ob sozialistische Hermetik oder kapitalistische Offenheit, es fehlt uns eine Bezugsmitte. Es ist die
Schuld der Mitte‛, wenn sie nicht da ist.“
1981 und 1982 werden zwei bereits aufgebaute Ausstellungen, die er gemeinsam mit dem befreundeten Maler Olaf Wegewitz in Halle und Merseburg haben soll, auf Weisung von SED-Bürokraten geschlossen. In Merseburg lautet der Vorwurf: Pornographie. Anstoß erregt bei den Funktionären ein Bild Grimmlings, das einen verkrampften, fliegenden, kopflosen, nackten Männerkörper mit erigiertem Penis zeigt. Der Dauerkonflikt mit der kleingeistigen Zensur zermürbt den Maler. Seine Befindlichkeit gleicht zu dieser Zeit der Holperfahrt auf einem klapprigen Karussell, inmitten des tristen Rummels DDR.
Denn es ist nicht so einfach, als freier Künstler im Staat der Werktätigen zu leben. Wenn man nicht Mitglied im Verband Bildender Künstler ist, wird man als „arbeitsscheues Element“ angesehen und hat quasi Asozialen-Status. Erst als Verbandsmitglied bekommt man eine Steuernummer: nur diese legitimiert den Künstler dazu, frei zu arbeiten. In diese Strukturen eingebettet zu sein, bedeutet Kontrolle, aber auch soziale Absicherung. Für einen Künstler mit aufbegehrendem Temperament und intellektueller Unruhe wie Grimmling aber sind es Gefängnisse, Drangsalierungen, Stumpfheiten, Abstumpfungen.

„der eingeimpften integrationsbereitschaft entwuchsen verweigerungs-
wille, ein artikulationsbedürfnis gegen ein adoptivverhältnis der
gesellschaft zum einzelnen.
zusammen scheinen diese veränderungen proben zu sein auf die
dehnbarkeit von bindungen, experimente auf die strapazierbarkeit des
sich-entfernens … als ständiger versuch, ein prozeß der loslösung.“


Trotz sich häufender Behinderung seiner Arbeit lässt er sich 1983 in die Leitung der Sektion Malerei-Graphik des Leipziger Verbandes Bildender Künstler wählen. Noch ist die Ambivalenz da: Sichere Aufträge verführen, gleichzeitig revoltiert er gegen die Einschränkung künstlerischer Kreativität durch staatliche Kontrolle und Verbote, gegen Hermetik und Eingesperrtsein in der DDR. Mit den befreundeten Malern Lutz Dammbeck, Olaf Wegewitz, Günther Huniat, Frieder Heinze und Günter Firit, „junge Wilde“ der DDR, versucht er, durch Kunstaktionen und Künstlerfeste auffällig, widerspenstig zu sein. Es entstehen kleine Zeitungen, Aktionen, Unterschriftensammlungen gegen die ungleiche Reisepolitik zu Ausstellungen in den Westen, es entstehen multi-mediale Projekte und Konzepte, die an der Zensur scheitern. Sie münden in den legendären „1. Leipziger Herbstsalon“ 1984 – auf den kein zweiter folgen wird – eine halblegale Ausstellung im Messehaus am Leipziger Markt. Grimmling und seine Freunde wollen die Grenzen ausloten, die eigene Kunst zeigen, unabhängig von allen staatlichen Reglements. Sie wollen zeigen, daß andere künstlerische Formsprachen in der DDR existieren als die offiziell geförderte und propagierte. Vielleicht ist es auch ein Test, ob ein Bleiben in der DDR noch möglich ist.
Installationen, Skulpturen, Objekte, Bilder werden mit dem Auto eines Schrotthändlers aus den Ateliers in das Messehaus gefahren. Weil dort keine Nägel in die Wände geschlagen werden dürfen, improvisieren die sechs: sie spannen Seile, bringen Schellen an, stellen die Bilder gegeneinander, legen sie auf den Boden. „Erfrischender Umgang mit Farbe und Material. Weiter so!“, schreibt jemand in das Gästebuch. Ein anderer: „Die Zugluft des Salons ist aufregend wie ein Wind vom Weltmeer. Ich bin erfrischt.“ An die zehntausend Neugierige aus der ganzen DDR reisen an, um den „Herbstsalon“ zu besichtigen. Sie sind nur durch Mundpropaganda informiert: Plakate oder Ankündigungen dürfen nirgends erscheinen.
Die Ausstellung wird ein riesiger Erfolg.
Für den geheim geplanten „Herbstsalon“ hatten die Maler eigenmächtig mit dem Messeamt einen Vertrag über die Ausstellungsräume abgeschlossen und so den Eindruck erweckt, sie handelten im Auftrag des Verbandes Bildender Künstler. Ein Trick. Die einzige Chance, das Monopol der Kulturbürokratie zu unterlaufen. Eine gigantische Kette setzt sich in Bewegung, um die Ausstellung zu verhindern – bis hin zum Zentralkomitee der Partei in Berlin. Der „Herbstsalon“ darf nur stattfinden, weil die Funktionäre bei Verbot einen „größeren politischen Schaden“ befürchten. So steht es wörtlich in den Stasi-Akten. Im Jahr darauf wird sie von den Kulturfunktionären als „konterrevolutionäres Ereignis“ abgestempelt.
Die Staatssicherheit eröffnet den operativen Vorgang „Salon“, trägt belastendes Material zusammen und konstruiert bedrohliche Anklagen. Grimmling wird als ein Hauptverdächtiger eingeschätzt. Ihm werden die Paragraphen 99 und 219 des DDR-Strafgesetzbuches zur Last gelegt: „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ – Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Und: „Landesverräterischer Treubruch“, Absatz 1) Freiheitsstrafe von zwei bis zehn Jahren,
Absatz 2) in besonders schweren Fällen lebenslängliche Freiheitsstrafe oder Todesstrafe.
Gut, daß der Künstler dies erst nach dem Mauerfall bei der Lektüre seiner Stasi-Akten erfährt. Die Konsequenz auf offen gezeigte Drohungen und Einschüchterungen ist, daß drei Maler des „Herbstsalons“ die DDR verlassen. Einer von ihnen ist Grimmling. Noch Ende 1984 stellt er einen Ausreiseantrag. Ein gutes Jahr später kann er mit seiner Familie nach West-Berlin ausreisen.
Er fühlt sich wie ein nasser Vogel, der in die Mauer fällt, den neuen Ort des Bleibens, nicht wie ein Schwebender, der die Ferne sucht. Seine Bilder „die vögel über berlin“, „das kalte herz“ und „der große und der kleine klaus“ beschreiben die Selbstbefindlichkeit jener Jahre.

„Das  weggehen … aus einem land voll zwietracht
und lethargie in das biotop westberlin bedeutete äußerste anspannung
und verlust, risiko und gewinn. gute freundschaften waren schwer
belastet, gewachsene beziehungen wurden bis zur verleugnung
strapaziert, zerreißproben eigener verwurzelung bis hin zur ver-
drängungssucht mussten ausgehalten werden. aber es war auch der
gewinn, sich einer selbsthuldigenden ‚kulturistischen’ nomenklatur
entzogen zu haben, sich einer gleichmachenden vereinnahmung nicht
verfügbar gemacht zu haben, auch nicht als opfer.“

Er holt das Reisen nach: New York, Madrid, London, Neapel, Paris, Amsterdam, Chicago, Orte, an denen er endlich die lange ersehnten Originale vieler neuer Vorbilder sehen kann. Der Inselstadt West-Berlin trauert er später nach. Schönheit und Hässlichkeit waren für ihn zu Mauerzeiten schärfer wahrnehmbar als heute.

Es entstehen großformatige Bildzyklen gegen den westlichen Überfluß, mit Titeln wie „die teller sind zu voll“ oder „kadewe-bilder“.  Er hat große Ausstellungen im In- und Ausland, beteiligt sich nach 1989 an den deutsch-deutschen Kunstdebatten und reagiert darauf mit seinen „fusionsbildern“, mit Variationen von „porta germanica“ und „salto germanico“, die die nicht bewältigte deutsche Vergangenheit zum Thema haben. Weil er häufig in den Farben Schwarz, Rot und Goldgelb malt, wird Grimmling auch als „Maler des geteilten Deutschland“ gesehen. „Im Meer der langen Zeit sind die vielen Weggeher, Weggedrängten aus der DDR Spurenleger der friedlichen Revolution von 1989. Sie haben zum Zusammenbruch des Landes beigetragen, indem sie ihm ihre Energie entzogen haben.“

Heimat ist ein Zustand, an Grün zu denken, sagt der Maler. Von seinen Bildern ist es verschwunden. Es verschwand mit der menschlichen Figur, und diese verschwand mit dem Flügel. Nur manchmal kommt das Grün wieder, zaghaft und unsicher. Blau, Gelb, Weiß, Rot sind die vorherrschenden Farben auf seinen Bildern – und über allem das dominierende Schwarz. Klar, kraftvoll, dramatisch. Ohne Zögern. „Wenn ich schwarz male, habe ich nicht unbedingt Kohle, Teer oder Grube im Kopf, aber ‚dunkel‛ und ‚unten‛.
Er empfindet Schwarz nicht als düster, sondern eher wie ein intensives Rot.
Grimmling, der seit 2001 Kunst an der Berliner Technischen Kunstschule, in der Computer-Designer ausgebildet werden, lehrt, verbringt jede freie Stunde in seinem Atelier.
Es ist sein Zufluchtsort, der Ort der Besinnung.
Auf dem Boden liegen grundierte Leinwände herum. „Die Leinwand muß zunächst Biologie bekommen, Zustand von mir. Feuchtigkeit, Struktur, Chaos im Liegen“, sagt der Maler. „Erst wenn das Bild in die Vertikale will, behauptet es schon eine Idee“
Nach wie vor ist seine Kunst vom Denken in formstarken Metaphern bestimmt. Den Zeitgeist beschreibt er mit mythologischen Stoffen und Bildsymbolen. Sie werfen immer wieder die Frage des Gehens und Bleibens auf, wobei das Schwarz das Tragende, das Schiff ist, auf dem er gleitet. „Die Melancholie des Schwarz habe ich im Laufe der Zeit immer mehr als Feierlichkeit begriffen und seine vermeintliche Traurigkeit oder Trauer eher als elegische Kraft“, sagt er. „Mir wurde klar, daß das Schwarz im Bild für mich Form bedeutet, daß ich es beim Bildermachen als Konstruktion, als Rhythmisierung, als Ordnung gebrauche und brauche.“ Und: „Alle bisherigen Kompensationen von ungelöstem Leben, die mit dem Eros zu tun haben, bringe ich in Verbindung mit Schwarz.“

In den letzten Jahren ist sich Grimmling seiner Kraft für Tektonik und Rhythmik bewusster geworden. Seine Bilderfindungen entwickeln sich nicht aus Motiven, die durch Farbe und Licht beschrieben sind, sondern eher aus skulptural wirkenden senkrechten und horizontalen Formen. Kraftfelder arbeiten gegeneinander, Aggression und Angriffslust stehen gegen Introvertiertheit und Schutzbedürfnis. Sein Ungenügen an der Zeit, an sich selbst, ist geblieben: Der Käfig ist offen, das Draußen nur ein größerer Käfig, der Vogel bleibt gestutzt. Ein zentrales, aus der Bildschlüssigkeit gewachsenes Symbol seiner Malerei ist das „Kreuz“.
Es entstand aus dem schwarzen Band, das verhinderte, den rot-goldenen Gordischen Knoten zu lösen.
„Das Kreuz ist das weiteste Zeichen von Ordnung und Halt. Ich glaube, das Kreuz ist die Grundstruktur in unserem Leib. Das Kreuz hält uns. Ich meine das nicht ideologisch. Der Körper, die innere Stabilität, ist auf das Kreuz aufgebaut. Auf die Senkrechte und die Waagerechte, die nicht nur zu 90 Grad winklig sind, sondern sich dadurch beschreiben, daß sie sich kreuzen. Der Mensch ist so gebaut, wie er gebaut ist. Sobald er die Arme hebt, ersehnt er nicht die Kreuzigung, sondern stellt sich selbst am Kreuz dar. Unsere Bewegungen, selbst unsere stillen Kommunikationen, sind räumliche Drehungen, Kippungen, winklige Verzerrungen des Kreuzes. Wir bieten immer das Kreuz an, nämlich uns selbst.“
Im Argonauten-Zyklus, an dem er seit einem Jahr arbeitet, ist das „Kreuz“ vom „Segel“ ersetzt. Der Künstler spielt mit der weißen Dreiecksform, um Weite in das Bild zu projizieren. Seine argonautischen Metaphern illustrieren nicht die Seereise griechischer Helden auf der „Argo“. Grimmlings Argonaut ist ein Einzelner, Einsamer, die Suche nach dem Goldenen Vlies geistiges Abenteuer. Seine kompositorischen Entdeckungen sind sein Land „Kolchis“.
„Das Argonautische, das Beschreiben des Weg-Wollens, setzt den Gedanken des Flügels am Menschenleib und des Drängens von Gold und Rot gegen die schwarze Verschnürung fort. Das Argonautische, das Nomadische im Geiste, ist die Beweglichkeit auf der Suche nach dem Sinn des Seins. Kunst ist immer ein Wegfahren in eine Distanz zur Gegenwart“, sagt er. „Sie lebt von der Hoffnung, dieses Sich-Wegbewegen bekäme den Sinn eines klareren Blicks auf den Ort des Bleibens.“  Der immer wieder neue Aufbruch in die Imaginationen der Kunst, das Sich-Entfernen vom Festland des Alltags ist für Grimmling Konzept. Es ist für ihn der schönste Zustand: zu malen.



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